Sonntag, 5. Oktober 2008

Wandel der Ikonographie in der Produktwerbung

Werbung für Klaviere - von der Allegorie zur Sachdarstellung

Die Serie der Klavierplakate spiegelt die allgemeine Plakatentwicklung der Jahre zwi¬schen 1890 und 1910 wider: die Entwicklung vom Allegorischen, Antikisierenden über das dekorative Historisieren zur sachlichen Darstel¬lung des Werbegegenstands selber bis hin zum modischen oder snobistisch verblüffenden Werbestil ... Die Klavierproduktion war ein wichtiger Wirt¬schaftszweig, da fast alle bürgerlichen Haushalte ihren kulturellen Anspruch durch ein Klavier zur Schau stellten. Klavierspiel gehörte zur Aus¬bildung der Kinder und galt insbesondere als ein unerlässliches Attribut der gebildeten Frau. Acht Beispiele der Werbung für Klaviere zeigen die Entwicklung der Plakatmotive von 1894 bis 1911: 1. Nikolaus Gysis -- „Accord / Pianos Rud. Ibach Sohn Barmen" 1894 Die Allegorie der Harmonie in antiker Gewandung sitzt auf einer Steinbank zwi¬schen einer Lyra und einem Dreifuß, auf dem die Flamme der Kunst brennt. Die allegorische Deutung der Idealfigur wird durch die Bezeichnung „Harmonie" über ihrem Kopf und "Accord" - als Inbegriff der Harmonie - nahe gelegt. Die allegorische Figur erscheint als Priesterin. Kunst als sakrale Handlung (die Wagner-Verehrung in Deutschland stand auf ihrem Höhepunkt). Der Kauf eines "Pianos" versprach den Zugang zu den Mysterien der Musik, denen man sich nur in andachtsvoller Untertänig¬keit nähern darf. Der Gegenstand der Wer¬bung, das Klavier selbst, ist noch nicht darstellungswürdig. Als bloß realer Gegen¬stand hat das Musikinstrument vor der allegorischen Darstellung des Kunstideals zurückzustehen. Das gilt auch für die folgen¬den Plakate. 2. Max Laeuger - „Pianos, Harmonium ,Schiedmayer, Pianofortefabrik` vormals J. & P. Schiedmayer Stuttgart" 1896 Eine weibliche Gestalt in faltenreichem Idealgewand sitzt auf einer Steinbank und spielt auf einer Lyra. Im offenen Haar trägt sie einen Lorbeerkranz. Die Figur lässt sich als Muse der Musik wie auch als nicht näher zu bezeichnende weibliche Idealgestalt deuten. Der Verzicht auf klare Definierung des Motivs bewirkt eine allgemeine vage Poetisierung. In diesem Fall bestätigt sich, dass die Reklame „um der ästhetischen Wirkung willen die der Allegorie eigene Poesie ausborgte" (Marx). Der sakrale Nimbus, der die Figur des vorgenannten Plakats umgab, tritt hier zurück zugunsten der Frühlingspracht blühender Rhododen¬dren, herrschaftliche Gewächse, die meist Repräsentationszwecken dienten. Zudem wird die anspruchsvolle Noblesse des Pla¬kates durch die subtile, nuancenreiche Farb¬gebung hervorgehoben. Steinbank, Rhodo¬dendren. antikisierte Idealfigur: sie alle sind Attribute des damaligen Begriffs von kulti¬vierter Vornehmheit. Der antike Stil fun¬gierte vielfach als Ausdruck des „herrschaft¬lichen" Anspruchs in Bürgerhäusern um 1900. Es sei lediglich an die Reliefs im anti¬ken Stil in den Eingängen der Berliner Häuser dieser Zeit erinnert. Beide - antiker Stil und Klavier - wurden als Statussymbole bürgerlicher Vornehmheit benutzt. So ist es nahe liegend, dass im Plakat eine antike Idealfigur zur Werbung für Klaviere einge¬setzt wird. Dass es auf den Charakter des „Vornehmen" ankam, illustriert die Beurtei¬lung von Sponsel: „Das ganze Bild ist von einem so reichen lyrischen, ja musikalischen Stimmungsgehalt erfüllt, so dass es seinen Zweck in vornehmster Weise erfüllt." 3. Anonym – „Görs & Kallmann, Berlin/ Pianinos Flügel“ vor 1900 Beethoven sitzt mit entschlossenem, pathetischem Gesichtsausdruck am Klavier, das nur durch die Tasten angedeutet wird. Dahinja¬gende Wolken im Hintergrund verstärken den forciert dramatisch-pathetischen Aus¬druck des Plakats. Die „höhere" Sphäre der Musik wird durch den Einklang von kosmi¬scher (naturhafter) und musikalischer Dra¬matik suggeriert. Ein erster Schritt zur Realität ist allerdings insofern schon getan, als die Welt der abstrakten Allegorie verlas¬sen und der Gegenstand, der die schöne dramatische Welt der Musik zu beschwören imstande ist, partiell (Tastatur) dargestellt ist. 4. Fritz Hellmut Ehmcke - Hof-Pianoforte ¬Fabrik Thein / Bremen Bohnenstr. 4 a / Hamburg (Kirchenallee 33 1900/ 1902 Ehmcke war Mitglied der „Steglitzer Werk¬statt", die 1900 von drei Absolventen der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewer¬bemuseums gegründet wurde. Ihre Ab¬sicht war, gute Gebrauchsgraphik zu gestal¬ten und auf Ornamentik, sei es die des Jugendstils oder des Historismus zu verzichten. Sie standen in en er Beziehung zu Thomas Theodor Heine und zu den Künstlern um die Zeitschrift „Jugend". In ihrem Bestreben nach einfachen. klaren Formen und hand¬werklicher Qualität knüpften sie an die Motiv- und Formenwelt des Biedermeier an. Ganz im Sinne dieser Tendenz verbindet die „Steglitzer Werkstatt" in ihrer Werbung für eine Klavierfabrik die Darstellung eines Klaviers - die erste auf einem deutschen Plakat - mit einem Biedermeiermotiv. Der Werbegegenstand legte das besonders nahe. Denn das Biedermeier galt als Blütezeit deutscher Hausmusik. Gerade um die Jahr¬hundertwende machten bürgerliche Kreise große Anstrengungen, entgegen der allge¬meinen kulturellen Nivellierung, die man beklagte, die Tradition der Hausmusik erneut zu beleben. Der Le¬bensstil auch des Biedermeier war in der Fantasie das Wunschbild vieler Frauen und daher von großer Werbeattraktivität. Die Tendenz, junge Damen im Biedermeier¬ oder Rokokokostüm in den Vordergrund des Interesses zu rücken, entwickelte sich in den folgenden Jahren rasch zur Mode in der Plakatwerbung… Die frühere Tradition weiblicher Allegorien klingt noch nach, aber jetzt in verwandelter Form in der Darstellung junger Damen. Das Moment der Entrückung, die Stilisierung zur Muse bleibt bis zu einem gewissen Grad noch gewahrt, wenn auch freilich nur in der Form der historischen Verkleidung. 5. Lucian Bernhard - „Steinway & Sons / New York Hamburg London / Eigenes Verkaufs¬magazin Berlin Königgrätzerstr. 6 / Pianos von 1300 M, Flügel von 2150 M ab" 1910 Entgegen der gängigen Plakatwerbung verzichtet Bernhard auf alles Beiwerk: Er stellt den Flügel schräg zum Beschauer, klappt ihn auf und zeigt klar und ruhig die Silhouette des angepriesenen Gegenstandes. Statt der kulturellen oder geselligen Werte des Klavierspiels stellt Bernhard als Erster den Gegenstand selber in den Mittelpunkt des Interesses. Er betont den Wert und die Solidität des Möbels allein durch die gewich¬tige Form des Instruments. Diese lässt er für sich sprechen und wahrt im Übrigen völlige Zurückhaltung. Der Verzicht auf anprei¬sende Zutaten wurde als der zeitgemäße Werbestil von allen Betrachtern gerühmt - und mehrfach von Julius Gipkens nach¬geahmt. 6. Julius Gipkens - „Schiedmayer Potsdamer Straße 27 B" um 1911 Gipkens verwendet Bernhards Modell und zeigt den Flügel schräg von unten. Er stellt ihn als dreidimensionalen Körper auf das flächige Schriftfeld (damit folgt er gleichfalls einer Idee von Bernhard: „Adler" - Schreibmaschine 1909). Dieselbe Firma Schied¬mayer, die 1896 Max Laeuger beauftragt hatte, bestellt 15 Jahre später dieses Sachpla¬kat. Deutlich zeigt sich die Entwicklung des Werbestils im Vergleich beider Entwürfe. 7. Noch weiter geht Gipkens in einem zweiten Plakat: Julius Gipkens - „Steck Orchestrelle Co., 135, 136 & 137 New Bond Street, London¬ um 1911 (nach Wember um 1891) Für den englischen Auftraggeber Orche¬strelle (deutsche Zweigniederlassung) stellt Gipkens einen Flügel in derselben Manier wie Bernhard dar, jedoch rot statt schwarz. Um des optischen Effekts willen verlässt Gipkens das Prinzip sachadäquater Darstel¬lung. Die Tendenz zur Sachlichkeit wird nicht negiert, vielmehr betont und manieri¬stisch übersteigert. (H. Gagel) Aus: Arbeitsbuch für den Kunstunterricht Sekundarstufe II, Kunst und Medien. Cornelsen Verlag, Düsseldorf. 1992. Seiten 92ff. Aufgaben: 1. Welche Allegorien tauchen in Zusammenhang mit dem Piano auf? Wie ist das zu erklären? Was bedeuten die jeweiligen Allegorien in Bezug auf den Erwerb eines Pianos? 2. Beschreiben Sie den Zusammenhang zwischen historischer Situation und Inhalt des jeweiligen Plakates! 3. Inwiefern wird die Reduktion als künstlerisches Mittel des Plakates deutlich? Beweisen Sie Ihre Theorie anhand des Textes und der jeweiligen Plakate! 4. Leiten Sie aus der Darstellung im Text und den Reproduktionen noch einmal ab, welche Faktoren für die Wirksamkeit eines Werbeplakates im besonderen verantwortlich sind! 5. Untersuchen Sie das Bild der Frau im frühen Künstlerplakat (Chéret, Toulouse – L’autrec, Mucha) auf seine werbewirksamen Funktionen!

nach Cornelsen: Kunst und Medien

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